Splashpages  Home Books  Events  Berichte  Steak zum Quadrat und Ultraschall-Pommes
RSS-Feeds
Podcast
https://www.splashbooks.de/php/images/spacer.gif


In der Datenbank befinden sich derzeit 9 Events. Alle Events anzeigen...
Specials Eventspecials

Steak zum Quadrat und Ultraschall-Pommes

modernist_cuisine_boxManche berühmte Köche werden heute wie große Maler behandelt: Die Inspiration des Meisters steht im Mittelpunkt, wer zu genau hinschaut, beschädigt angeblich die Seele des Kochens. Aber was passiert, wenn ein Wissenschaftler Kochen und Lebensmittel aus seinem ganz spezifischen Blickwinkel betrachtet?

Wer den Beginn des beruflichen Werdegangs von Dr. Nathan Myhrvold betrachtet, würde nicht unmittelbar an Kochen denken. Dr. Myhrvold hat an der UCLA Mathematik, Geo- und Astrophysik studiert und in Princeton in Wirtschaftsmathematik und theoretischer Physik promoviert. Als Postdoc arbeitete er mit Stephen Hawking in Cambridge, später baute er als erster Chief Technology Officer bei Microsoft unter anderem Microsoft Research auf. 1999 verließ er den Softwarekonzern, um eigene Interessen zu verfolgen. Und dazu gehörten eben auch seine Leidenschaft fürs Kochen und die Lebensmitteltechnologie. Auch in diesem Bereich schuf er sich eine fundierte Basis, unter anderem als Stagier (ein Praktikant, der mehr tut als kopieren und Kaffee holen) bei Rover's in Seattle, an der Kochschule La Varenne oder als Chief Gastronomic Officer für Zagat Survey, die unter anderem Restaurants anhand von Erfahrungsberichten beurteilen.

Sein Blick auf Essen und Kochen ist naturgemäß durch seine wissenschaftliche Perspektive geprägt, und das ist auch das große Thema bei dem Projekt, das Dr. Myhrvold am Buchmessen-Mittwoch vorstellte. Die Präsentation fand allerdings nicht in Frankfurt, sondern in Mainz statt, genauer am Max-Planck-Institut (MPI) für Polymerforschung. Leider hielt uns unter anderem der Verkehr auf der Autobahn zwischen Buchmesse und MPI etwas länger auf als geplant, so dass wir nicht die vollständige Präsentation verfolgen konnten.

Und das ist sehr schade, denn das Projekt, um das es ging, ist mehr als beachtlich: Nathan Myhrvold hat ein Kochbuch geschrieben. Aber nicht irgendein Kochbuch, sondern eines aus wissenschaftlichem Blickwinkel. Und richtig umfangreich ist es außerdem, die sechs Bände kommen zusammen auf über 2.400 Seiten. Natürlich hat Dr. Myhrvold dieses Projekt nicht alleine gestemmt. Ebenfalls beteiligt sind Chris Young, der die Experimentalküche in Heston Blumenthals Restaurant The Fat Duck aufbaute und dort fünf Jahre arbeitete. Er hat Mathematik und Biochemie an der Universität Washington studiert, aber seine Promotion abgebrochen, um als Commis de Cuisine in einem der besten Restaurants von Seattle zu arbeiten. Maxime Bilet studierte am Skidmore College Kreatives Schreiben, Literatur und Visuelle Kunst und schloss dann sein Studium mit Auszeichnung am New Yorker Institute of Culinary Education ab. Er stieg schnell zum Küchenchef in Jack Lambs "Jack's Luxury Oyster Bar" auf, später ging er nach London und ergänzte das Entwicklungsteam in The Fat Duck.

Zusammen mit einem Team von etwa 20 Mitarbeitern erschufen sie ein Werk, das den Titel "Modernist Cuisine" trägt. Darin betrachten sie wie schon dezent angedeutet Kochen und Essen aus dem wissenschaftlichen Blickwinkel. Wie genau muss man einen Hamburger braten, um das ideale Ergebnis zu erzielen? Wann sollte man die Sahne in den Kaffee geben? Oder wie lange und bei welcher Temperatur muss man Eier kochen, um eventuelle Salmonellen auch sicher abzutöten? An diese und viele anderen Fragen ging das Team auch mit ungewöhnlichen Methoden heran. Wenn man seinen Hamburger etwa innen saftig und außen schön kross gebraten haben möchte, wird das Fleisch am besten zwischendurch in flüssigem Stickstoff schockgefrostet. Dadurch entsteht eine Barriere einige Millimeter unter der Oberfläche, die man dann gut anbraten kann, ohne dass das Innere austrocknet. Für die idealen Pommes Frites kann man ein Ultraschallbad benutzen, wie man es vielleicht vom Säubern von Schmuck kennt.

Immer sind exakte wissenschaftliche Methoden wichtig. Hier gerät Modernist Cuisine durchaus auch einmal über Kreuz mit der etablierten Kunst des Kochens. Einige Spitzenköche lehnen es etwa ab, digitale Thermometer zu verwenden. Das würde "die Seele des Kochens" beschädigen. Nathan Myhrvold ist jedoch der Meinung, dass man stets die am besten geeigneten Werkzeuge verwenden sollte, und die Leistungen des Menschen als exaktes Thermometer sind nun mal begrenzt. Untermauern kann er diese Einstellung durch die wissenschaftlichen Erläuterungen, die er mit seinen Empfehlungen verbindet. Er sagt nicht nur, benutzt ein Ultraschallbad für Eure Pommes, sondern er erklärt auch die Wissenschaft, durch die der gewünschte Effekt erreicht wird.

Im MPI in Mainz widmete sich Dr. Mhyrvold auch der Nahrungsmittelüberwachung. Beispielsweise hatte er vor einiger zeit amerikanische Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit einem kritischen Blick unterzogen, und er fand einiges, das aus seiner Sicht verbesserungswürdig war. Die Reaktionen der zuständigen Behörden waren zunächst weniger aufgeschlossen, aber auch hier konnte er seine Vorschläge gut begründen. Auch in Mainz wurde deutlich, dass Nathan Myhrvold seine Anliegen zu vertreten weiß. Er ging ebenso eloquent wie gut verständlich auf verschiedenste Themen ein, vom bereits erwähnten ideal gebratenen Hamburger über die Möglichkeiten zum Einsatz der Mikrowelle - man kann damit sehr schnell Kräuter trocknen - bis zu den teils komplexen Wegen, wie Verunreinigungen in Nahrungsmittel gelangen können.

Vor der Tür des Vorlesungssaales konnte man im Objekt der Begierde blättern. Dabei zeigt sich schnell, dass für "Modernist Cuisine" eigentlich weder die Begriffe Kochbuch im Speziellen noch Buch im Allgemeinen angemessen erscheinen. Kaum ein (einzelnes) Buch wird diese physischen Dimensionen erreichen, und kaum ein Kochbuch wird etwa wissenschaftliche Abhandlungen über Mikrobiologie oder die Natur von Wärme und Temperatur enthalten. Die optische Gestaltung ist, wie vom Taschen Verlag gewohnt, opulent. Viele Fotos von Lebensmitteln oder fertigen Gerichte könnte man sich auch als Poster an die Wand hängen, und eine große Zahl von Diagrammen und Graphen machen die wissenschaftlichen Zusammenhänge noch besser nachvollziehbar.

Eigentlich ist "Modernist Cuisine" das ideale Weihnachtsgeschenk für jeden, der sich für Kochen und/oder Wissenschaft und/oder schöne Bücher begeistern kann. Der einzige Wehrmutstropfen ist der Preis: Rund 400 Euro werden nur wenige mal eben aus der Portokasse bezahlen können. Das Werk ist seinen Preis aber auf alle Fälle wert.

Modernist Cuisine: Die Revolution der Kochkunst
Nathan Myhrvold, Chris Young, Maxime Bilet
6 vol. in slipcase, 26.2 x 33 cm, 2440 Seiten
€ 399.00
ISBN 978-3-8365-3256-3
Ausgabe: Deutsch
Verfügbarkeit: 11/2011

modernist_cuisine_beispielseite1modernist_cuisine_beispielseite2



Daten dieses Berichts
Bericht vom: 15.10.2011 - 22:34
Kategorie: Tagebuch
Autor dieses Berichts: Henning Kockerbeck
«« Der vorhergehende Bericht
EPUB3: Neue konzeptionelle Möglichkeiten für E-Books
Der nächste Bericht »»