Das Sandkorn
Story:
Der junge Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn ist nach einer unschönen Episode in seinem Privatleben von Berlin nach Rom geflohen und brütet dort im Keller des Preußischen Instituts über alten Dokumenten und Urkunden. Als ihm sein direkter Vorgesetzter Stammschröer die Aufgabe überträgt, die Bauten des Stauferkönigs Friedrich II. in Apulien zu erforschen und zu fotografieren, nimmt er das Angebot mit Freuden an. Die erste Reise unternimmt er noch allein, auf der zweiten Forschungstour durch Süditalien begleitet ihn sein Schweizer Kollege Beat Imboden, für den er schon bald heftige Gefühle entwickelt. Doch der beginnende erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus und sorgt dafür, dass die beiden den Auftrag nicht beenden können. Nachdem Stammschröer all seine Beziehungen hat spielen lassen, brechen die beiden zu einer letzten Reise durch Apulien auf, dieses Mal in Begleitung der jungen Italienerin Letizia Trivulzio di Belgioioso, die die Missstände im südlichen Italien und die Emanzipation der Frauen interessiert. Sie soll das deutsche Forschungsteam offiziell überwachen.
Als auch die letzte Forschungsreise abgebrochen wird, kehrt Tolmeyn nach Berlin zurück und gedenkt seinen Erlebnissen, indem er den Sand, den er auf seinen Reisen gesammelt hat, in Berlin ausstreut. Damit macht er die Schutzpolizei aufmerksam, allen voran Kommissar Treptow, der ihn verhört und schon bald dem Geheimnis des Kunsthistorikers auf der Spur ist.
Meinung:
Vor einhundert Jahren begann der erste Weltkrieg - einer der Hauptgründe, weswegen 2014 etliche neue Publikationen rund um dieses geschichtsträchtige Ereignis auf den deutschen Markt kamen. Egal ob Sachbücher, Biografien oder belletristische Werke: Dieses Jahr erschienen unzählige Bücher, die den ersten Weltkrieg thematisierten. Auch Christoph Poschenrieders Roman "Das Sandkorn" fällt in diese Sparte. Allerdings wird der Krieg nicht direkt behandelt, sondern bleibt immer nur als düsterer Schatten im Hintergrund der Geschichte. Stattdessen konzentriert sich der Autor auf Randthemen und Randfiguren, ohne kleinere und größere historische Ereignisse aus den Augen zu verlieren.
Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven und Zeitebenen erzählt. Den größten Raum nehmen die Passagen um Tolmeyns Forschungsreisen durch Italien und seine Zeit in Rom ein. Doch auch die kurzen Einblicke in das Verhörzimmer, in dem der Kunsthistoriker Treptow gegenübersitzt und die persönlichen Aufzeichnungen des Berliner Kommissars sind wichtig für die Handlung und geben dem Roman die eine oder andere spannende Wendung.
Vordergründig geht es um Tolmeyn und sein Leben, das im Laufe der Zeit immer stärker aus dem Gleichgewicht gerät - sowohl in Italien, da er sich stark zu seinem Assistenten Beat Imboden hingezogen fühlt und sich zwischen den beiden sogar eine sehr leichte Liebe entwickelt, als auch in Berlin, als er dem Kommissar von seinen Forschungsreisen berichtet und dieser eher zufällig auf einen alten Fall stößt, der den Kunsthistoriker persönlich betrifft. Darüber hinaus liefert der Autor ein beeindruckendes Bild der Vorkriegszeit und baut immer wieder historische Begebenheiten ein, die "Das Sandkorn" erst so reizvoll machen. Seien es die "Eulenburg-Affäre", die Homosexuelle erst so sehr in Verruf brachten, oder Arthur Haseloff und Martin Wackernage, die als historische Vorbilder für Tolmeyn und Imboden angeführt werden - Christoph Poschenrieder hat intensiv recherchiert und lässt dadurch die Zeit lebendig und authentisch wirken. Das zeigt sich auch bei den Beschreibungen der Bauwerke und Ruinen, der italienischen Landschaft mit ihren Bewohnern und der Kunst des Fotografierens, der damals noch ein komplizierter Prozess voranging. Dadurch hat der Roman mehr zu bieten, als Tolmeyns Geschichte - er bietet dem Leser einen Einblick in eine Epoche, die thematisch mehr zu bieten hat als nur den ersten Weltkrieg.
Der titelgebende Sand kommt im Laufe des Buches immer wieder vor - mal als Sandkorn, mal in Form von Treibsand - und steht metaphorisch für Tolmeyns Leben, die Gesellschaft und den Krieg als Ganzes. Er spielt eine übergeordnete Rolle, die sich dem Leser erst erschließt, wenn man die letzten Seiten gelesen hat.
Neben der atmosphärischen und interessanten Geschichte können auch die Figuren punkten. Tolmeyn ist eine gut gewählte, gut durchdachte Hauptfigur, der gut in die Zeit passt und dessen Beweggründe man gut nachvollziehen kann. Zu Beginn braucht man ein wenig, um mit ihm warm zu werden, doch mit der Zeit baut man als Leser eine intensive Beziehung zu ihm auf, die dafür sorgt, dass man seinen Erzählungen ebenso gebannt lauscht wie Kommissar Treptow. Dieser ist ein guter Gegenpol zu Tolmeyn, wenngleich er nur selten zu Wort kommt. Dennoch hinterlassen seine Abschnitte einen tiefen Einblick, da sie helfen die Zeit und das Umfeld besser zu verstehen.
Auch die anderen Charaktere sind wichtig und geben der Geschichte einen passenden Rahmen - sei es Imboden, dessen Gedanken und Gefühle zumeist im Dunkeln bleiben, oder die Italienerin Letizia Trivulzio di Belgioioso, die sich für die Missstände im südlichen Italien und die Emanzipation der Frauen interessiert - sie alle sind authentische, fesselnde Persönlichkeiten, mit denen man sich schnell identifizieren kann.
Stilistisch präsentiert Christoph Poschenrieder einen elegant geschriebenen, tiefgründigen Roman, der durch ausdrucksstarke Bilder, gut umgesetzte Dialoge und sehr authentische und historisch genaue Beschreibungen besticht. Während er sich bei der komplizierten Kunst des Fotografierens und den Darstellungen von Süditalien und der staufischen Bauwerke schnell in Details verliert, bleibt er bei Tolmeyns Gefühlen und seiner Beziehung zu Imboden eher vage, so dass man zwischen den Zeilen lesen muss, um auch die subtilen Untertöne des Romans wahrzunehmen und zu verstehen. Da dies jedoch Tolmeyns sachlicher, zurückhaltender Natur entspricht, passt Poschenriedes Stil sehr gut zur Geschichte und liefert genug Stoff zum Nachdenken.
Auch die historischen Begebenheiten und das Einweben etlicher Hinweise und Metaphern ergeben ein rundes Bild der damaligen Zeit und lassen den Leser in eine Zeit eintauchen, die für viele ungreifbar geworden ist.
Fazit:
"Das Sandkorn" ist ein bemerkenswerter, intelligent geschriebener und sehr tiefgründiger Roman, der sich fernab der üblichen Literatur rund um die Zeit des ersten Weltkriegs bewegt. Dank der ungewöhnlichen Thematik (Forschungsreisen und Homosexualität), den politischen und historischen Hintergründen (Eulenburg-Prozesse) und des sehr atmosphärischen, sicheren Schreibstils lohnt sich Christoph Poschenrieders Roman vor allem, wenn man hinsichtlich des ersten Weltkrieges einen Blick über den Tellerrand werfen möchte. Der Autor gibt einen gelungenen Einblick in die Zeit und wartet mit der ein oder andere geschickten Wendung auf. Zu empfehlen.
|