Sir John und Bruder Athelstan 01: Die Galerie der Nachtigallen
Story:
1377 ist England im Umbruch. Der alte König ist tot, und sein Nachfolger noch ein kleiner Junge. Also übernimmt ein Onkel des neuen Herrschers die Regierungsgeschäfte. Die Reichen und Mächtigen des Landes versuchen, aus den neuen Verhältnissen Kapital für sich zu schlagen.
In der Hauptstadt London wird derweil ein angesehener Goldschmied ermordet. Allem Anschein nach hat ein Diener ihn nach einem heftigen Streit vergiftet. Der vermeintliche Täter wird kurz darauf ebenfalls tot aufgefunden. Hat er sich selbst gerichtet? Im Auftrag des Hofes untersuchen der Coroner Sir John und sein Schreiber Bruder Athelstan die Angelegenheit. Aber schnell zeigt sich, dass die augenscheinliche Version der Geschehnisse zu perfekt ist um wahr zu sein. Hütete der Tote etwa ein Geheimnis, das selbst den Thron ins Wanken bringen könnte?
Meinung:
Eines ist sicher: Dieser Roman ist nichts für zarte Gemüter. Hier wird gerülpst und gefurzt, hier bedeckt der Kot, tierischer wie menschlicher, die Straße, hier baumeln verwesende Leichen zur Abschreckung am Galgen. Paul Harding spart die unangenehmen Seiten des mittelalterlichen Lebens nicht aus. Das gilt auch für die sozialen Verhältnisse. Während die Ärmsten froh um ein Hungertuch wären, am den sie nagen könnten, leben die Reichen ungeniert in Saus und Braus. Und ein Amtsträger, der sich nicht bestehen lässt, ist etwas höchst außergewöhnliches.
In diese Welt schickt der Autor seinen Coroner Sir John Cranston und dessen Schreiber, den Dominikaner Bruder Athelstan. Beide sind auf den ersten Blick nicht gerade Idealbesetzungen für die Heldenrolle. Sir John ist sehr korpulent und neigt zu Wutanfällen, wenn er sich nicht gerade an reichlich Wein, Bier und fetten Speisen "erfrischt". Oft schläft er während der Befragung eines Verdächtigen einfach ein, weil er wieder einmal einen über den Durst getrunken hat. Athelstan wiederum tut Buße für vergangene Sünden: Er gibt sich die Schuld am Tod seines Bruders. Zu den unangenehmen Pflichten, die sein Prior ihm auferlegt hat, gehört neben dem Dienst für Sir John auch die Pfarrstelle in einer der heruntergekommensten Kirchen der Stadt.
Das alles mag sich anhören, als wäre "Die Galerie der Nachtigallen" ein negativer, geradezu verbitterter Roman. Das ist aber nicht der Fall. Paul Harding zeichnet das London des 14. Jahrhunderts, wie es plastischer, saftiger und deftiger kaum sein könnte. Seine Figuren sind weder Heilige noch Teufel, sondern schlicht Menschen. Und sie alle, die Straßenhure ebenso wie der Regent, werden zumindest ein Stück weit sympathisch dargestellt.
Der Kriminalfall, dem sich Sir John und Bruder Athelstan gegenüber sehen, ist gut konstruiert und spannend erzählt. Dazu trägt nicht zuletzt ein Kunstgriff des Autors bei: Er enthüllt, dass einer der beiden Detektive einen entscheidenden Hinweis gefunden hat, aber erst viel später, worum es sich dabei konkret handelt. Positiv fällt auch auf, dass die Ermittler, obwohl sie im höchsten Auftrag handeln, sich durchaus nicht alles erlauben können. Wenn Sir John dem Falschen gegenüber große Reden schwingt, kann es ihn das Amt kosten. Das führt dazu, dass die Beiden aufpassen müssen, potentielle Verdächtige nicht zu sehr zu bedrängen. Über die Auflösung am Ende kann man geteilter Meinung sein. Einigen Leser wird die Kreativität gefallen, die der Autor an den Tag legt, denn von einer 0815-Mordmethode kann man hier sicher nicht sprechen. Andere werden der Meinung sein, dass Harding das sprichwörtliche Rad hier etwas zu weit gedreht hat und der Modus Operandi übertrieben, weil zu unzuverlässig für den Täter, ist.
Die historische Einbettung ist gelungen. Der alte König, Edward III., starb tatsächlich 1377. Sein ältester Sohn Edward, bekannt als der "Schwarze Prinz", war rund ein Jahr zuvor gestorben. Dadurch kam der Enkel des alten Königs als Richard II. auf den Thron, im Alter von gerade einmal zehn Jahren. Die ersten Jahre regierte sein Onkel John of Gaunt, ein jüngerer Sohn Edwards III., in seinem Namen. Auch die Machtkämpfe zwischen König, Regent, Parlament und anderen Parteien gab es wirklich.
Die historische Genauigkeit ist kein Wunder, ist "Paul Harding" doch eines der diversen Pseudonyme von Paul C. Doherty. Der Brite gehört zu den bekanntesten und produktivsten Autoren historischer Kriminalromane. Neben dem britischen Mittelalter schickt er seine Helden beispielsweise im alten Ägypten oder zur Zeit Alexander des Großen auf Verbrecherjagd. Der 1946 geborene Doherty ist studierter Historiker und arbeitet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als Lehrer und Dozent. Für Sir John Cranston und Bruder Athelstan ist "Die Galerie der Nachtigallen" das erste Abenteuer in einer Serie, die bisher 11 Bände umfasst. Der bislang letzte Band wurde, nach acht Jahren Pause, 2011 im Original veröffentlicht. Auf Deutsch liegen die ersten neun Teile vor.
Einige kleine Nachlässigkeiten schmälern jedoch den Lesegenuss etwas. Beispielsweise verweist der Klappentext auf das Jahr 1337 statt 1377. Und obwohl Bruder Athelstan ausdrücklich betont, ein Ordensbruder und kein Mönch zu sein (die Dominikaner führen kein monastisches Leben), bezeichnet der auktoriale Erzähler ihn später als "der Mönch". Trotzdem ist "Die Galerie der Nachtigallen" ein gelungener historischer Roman, der Lust auf die weiteren Bände der Reihe macht.
Fazit:
Paul Harding aka Paul C. Doherty schickt sein ungleiches Ermittlerpaar in ein mittelalterliches London, wie es kaum plastischer und deftiger sein könnte. Wer sich vor dem einen oder anderen unverbrämten Furz nicht fürchtet, bekommt einen gelungenen historischen Krimi geliefert.
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Paul Harding
Sir John und Bruder Athelstan 01: Die Galerie der Nachtigallen
The Nightingale Gallery
Übersetzer: Rainer Schmidt
Erscheinungsjahr: 1999
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Knaur
ISBN: 978-3426611678
270 Seiten
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