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Lycidas

Story:
Emily lebt im Waisenhaus von Reverend Dombey in London. Der sieht seine "Schützlinge" vor allem als Einnahmequelle: In Form des Geldes, das er eigentlich für die Versorgung der Kinder verwenden sollte, als Arbeitskräfte, die an jedermann vermietet werden, oder schlicht als Bettler. Für die kleinsten Vergehen pfeift der Rohrstock, oder es droht das fensterlose, dunkle Verließ im Keller. Die ganz unglücklichen unter den Kindern sind nach dem Geschmack der Kunden von Madame Snowhitepink.

Die zwölfjährige Emily hat sich längst damit abgefunden, dass wohl nie die Wahl potentieller Adoptiveltern ausgerechnet auf sie fallen wird, zumal sie seit einer der Prügelorgien nur noch ein Auge hat. Aber eines Tages geschieht etwas, das ihr Leben völlig verändern soll: Eine Ratte spricht sie in der Küche an und bittet sie, auf die kleine Mara, einen Neuzugang im Waisenhaus, achtzugeben. Das scheint auch dringend notwendig, denn schon kurz darauf attackiert ein Werwolf das Haus und entführt Mara.

Emily, die eine weitere grausame Strafe zu erwarten hat, nutzt das Durcheinander und flieht in die klirrende Kälte des Londoner Winters. Noch ahnt sie nicht, was sie dort alles erwartet. Denn sprechende Ratten und Werwölfe sind nicht die einzigen Wesen, die die Einwohner Londons normalerweise nicht zu Gesicht zu bekommen. Und schnell zeigt sich, dass Emily mehr mit all dem zu tun hat, als sie je ahnen konnte...

Meinung:
Gute Fantasy ist zwangsläufig angloamerikanischen Ursprungs, kommt aus Großbritannien oder den USA? Kai Meyer widerlegt diese Vermutung Roman um Roman, und mit Christoph Marzi hat er einen würdigen Mitstreiter bekommen. Der aus der Eifel stammende Autor zeichnet in "Lycidas" eine phantastische Welt, die sich an Umfang, Komplexität und Vielschichtigkeit nicht vor großen Vorbildern zu verstecken braucht. Dabei erfindet er nicht unbedingt das Rad neu, einige seiner Kreaturen wie Werwölfe, Elfen (oder sollte man besser von Elben sprechen?) oder Engel gehören zum Standardrepertoire der Fantasy. Aber Marzi liefert Räder von sehr guter Qualität, um im Bild zu bleiben, und der Leser fährt gerne auf ihnen.

Für die Figuren ist die Reise hingegen weniger ein Vergnügen, denn der Autor mutet ihnen allerhand zu. Die kleine Emily kommt auf den ersten 150 Seiten gleich mehrfach nur knapp mit dem Leben davon, wird gehetzt von Werwölfen, beinahe erschlagen von einem riesigen Schwert, stürzt in einen Abgrund, ertrinkt fast in einem eisigen Fluss oder gerät in die Fänge zweier sadistischer Häscher. Und das ist nur ein kleiner Teil von "Lycidas", das insgesamt über 850 Seiten umfasst – und auf das noch (bisher) drei weitere Bände ähnlichen Kalibers folgen.

Die Sprache, in der Marzi seine Geschichte schildert. ist kurz und prägnant, oft regelrecht knapp. Oft verwendet er grammatikalisch unvollständige Sätze oder nur einzelne Worte, die häufig sogar einen Absatz für sich bilden. Es ist unter anderem diese Unmittelbarkeit, die dem Leser den Zugang sehr erleichtert. Praktisch mit den ersten Worten ist man "in der Geschichte". Und die lässt einen ab dann auch nicht wieder los. Atemlos folgt man Emily, ihren Mit- und Gegenstreitern über die Seiten, während der Autor kaum eine Atempause erlaubt. Die nahezu unablässige Spannung erreicht Marzi weniger durch Action, obwohl es auch davon genügend gibt, sondern vor allem durch ein ständiges Gefühl der Bedrohung. Das kann direkter sein, wenn unsere Helden scheinbar unüberwindlichen Gefahren für Leib und Leben gegenüberstehen, oder auch eher hintergründig. Immer droht irgendwie Unheil, ziehen dunkle Wolken am Horizont auf.

Das erreicht Marzi vor allem durch zwei Stilmittel: Zum einen deutet er oft Dinge an, die noch nicht geschehen sind – oder die bereits geschehen sind, aber noch nicht erzählt wurden. Wichtiger und häufiger sind jedoch die Zeitsprünge, die Vorausschauen und Rückblenden. Beispielsweise erhalten Emily und ihre Verbündeten einmal eine Nachricht, die alle schockiert, ja geradezu mit Entsetzen erfüllt. Darauf folgt eine kapitellange Rückblende, wie es dazu kam. Erst danach wird erzählt, was denn nun der Inhalt der Nachricht war. Ganz extrem ist es im zweiten der drei "Bücher", in die der Roman aufgeteilt ist. Am Anfang sehen wir die Reaktion Emilys auf einen Verrat. Worin dieser Verrat besteht, erfahren wir erst am Ende des Buches, etwa dreihundert Seiten später. Diese "Bücher im Buch" tragen übrigens fast die gleichen Namen wie der ganze Roman und seine beiden "dicken" Nachfolger: Lycidas, Lillith und Licht (bzw. Lumen).

Zur Faszination trägt auch die liebevoll und ausführlich geschilderte Welt des Romans bei. Christoph Marzi hat mit der uralten Metropole und ihren Bewohnern eine tragfähige Basis für seine Geschichten geschaffen. Speziell die Idee der Stadt unter der Stadt ermöglicht eine interessante Ambivalenz: Einerseits sind die Schauplätze im realen, vielen vertrauten London verankert. Andererseits kann der Autor den unterirdischen Äquivalenten von Tower oder Piccadilly Circus ein ganz neues, ungewohntes Aussehen und damit einen neuen Charakter geben. Dabei greift er auf die Mythen und Geschichten aus vielen Kulturen und Zeitaltern zurück. Die Genesis, das alte Ägypten, jüdische Folklore zwischen Mittelalter und Renaissance, deutsche Sagen des Hochmittelalters oder Jack the Ripper, alles ist vertreten.

Seinen Protagonisten widmet Marzi nicht weniger Aufmerksamkeit. Nach und nach zeichnet er ein immer deutlicheres, immer vollständigeres Bild von ihnen, als würde der Leser Wittgenstein, Micklewhite und die anderen zusammen mit Emily während der gemeinsamen Abenteuer immer besser kennenlernen. Dabei zieht er sich nur sehr selten auf Klischees zurück. Kaum, wenn überhaupt einer unter denen, die Emily bekämpfen muss, ist böse und damit hat es sich. Das gilt, ohne zu viel verraten zu wollen, sogar für den hauptsächlichen Antagonisten des ersten Buches. Auch umgekehrt, (fast) keiner, der auf Emilys Seite steht, hilft ihr aus reiner Freundlichkeit. Speziell ihr Mentor Wittgenstein kann Emily, wie Kinder generell, zu Beginn überhaupt nicht leiden; die beiden freunden sich nur nach und nach an. Wie die meisten anderen auch hat er seine ganz eigene Agenda. Und so mancher entpuppt sich im Laufe des Buches als ganz anders, als ihn Emily (und mit ihr der Leser) zunächst eingeschätzt hatte, in beide Richtungen.

Zeitlich entzieht sich die Geschichte ein wenig der Einordnung. Objektiv spielt "Lycidas" eindeutig in einem modernen London, mit Rolltreppen, CDs und Teddybären aus Singapur. Aber das Waisenhaus in Rotherhithe könnte einem Dickens-Roman entsprungen sein, und die uralte Metropole ist sowieso zeitlos. Zu diesem Eindruck tragen auch die veralteten, teils altertümlichen Formulierungen und Wendungen bei, die Marzi seinem Ich-Erzähler Wittgenstein gelegentlich in den Mund legt. Auch praktisch alle Namen entspringen den Werken von Schriftstellern wie Dickens oder Conan Doyle oder sind an sie angelehnt.

Auch wenn die Hauptfigur ein (zu Beginn) zwölfjähriges Mädchen ist, eignet sich "Lycidas" nicht für zu junge Leser. Das liegt zum einen am schieren Umfang und der Komplexität, zweitens an der schon erwähnten andauernden (An-)Spannung und nicht zuletzt auch an der oft drastischen, stellenweise sogar brutalen Geschichte. Einige von Marzis Kreaturen oder Szenen – erwähnt seinen hier nur die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen oder der schon oben erwähnte Verrat – bieten reichlich Potential für kindliche Albträume. Aber wer damit klarkommt und sich auf eine umfangreiche neue Welt einlassen möchte, hat viele Stunden spannendes Lesevergnügen vor sich.

Fazit:
Ein neues Talent der deutschsprachigen Fantasy zeigt schon in den ersten Zeilen, was in ihm steckt. Christopher Marzi legt in "Lycidas" den Grundstein für viele Abenteuer seiner Figuren und viele Stunden spannendes Lesevergnügen seiner Leser. Ein Schmöker im besten Sinne des Wortes.

Lycidas - Klickt hier für die große Abbildung zur Rezension

Christoph Marzi
Lycidas
Erscheinungsjahr: 2004



Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck

Verlag:
Heyne Verlag

Preis:
€ 14,00

ISBN:
978-3453530065

861 Seiten
Positiv aufgefallen
  • Christoph Marzi hat ein komplexes, vielfältiges Fantasy-Universum geschaffen
  • Die Abenteuer gönnen weder den Protagonisten noch dem Leser eine Atempause
  • (Fast) niemand ist platt gut oder böse, jede Figur hat ihre eigene Agenda
Negativ aufgefallen
Die Bewertung unserer Leser für dieses Book
Bewertung:
2
(1 Stimme)
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Rezension vom: 02.06.2009
Kategorie: Fantasy
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