Grau
Story:
Eddie Russett zieht mit seinem Vater an
den äußersten Rand der zivilisierten Welt, nach Ost-Karmin, wo er
zur Strafe für einen Scherz eine Stuhlzählung durchführen soll.
Schnell findet der junge Mann heraus, dass die Bewohner der Randzone
die Gesetze nach ihren eigenen Interessen auslegen und die
Stadtoberen, die Präfekten, einem das Leben schwer machen können.
Dann trifft er auf die attraktive Jane, die ihn am liebsten umbringen
würde, weil er sie nur anschaut. Doch diese junge Frau wird ihm
langsam die Augen öffnen und schon bald realisiert Eddie, dass er
seine Strafe nicht aufgrund eines Scherzes abarbeiten muss und die
Welt, wie er sie bisher kannte, nichts ist als ein Lügengeflecht,
das ihre Bewohner davon abhält, die Wahrheit über die Gesellschaft
zu erfahren.
Meinung:
Mit „Shades of Grey - The Road to
High Saffron“ veröffentlichte Jasper Fforde 2010 seinen ersten
dystopischen Roman. Bisher fiel der 1961 geborenen Londoner vor allem
durch seine abstrus witzige „Thursday Next“-Reihe auf, in der die
gleichnamige Protagonistin in einem Paralleluniversum des bekannten
Englands lebt und es dort mit allerhand Figuren aus der englischen
Literaturgeschichte zu tun bekommt. Die Reihe erscheint auf Deutsch
bei dtv, „Grau“ jedoch erschien als Hardcover beim Verlag mit der
Fliege, dem beinahe von der Bildfläche verschwundenen
Eichborn-Verlag. Das Cover der deutschen Ausgabe bezieht sich
inhaltlich auf dem Roman und bietet schon die ein oder andere
Anspielung auf das, was dem Leser auf seiner Reise mit Eddie Russett
alles begegnen wird.
Ich-Erzähler Eddie Russett ist zu
Beginn des Romans in einer mehr als misslichen Lage, steckt er doch
kopfüber in einem Yateveobaum fest und wird über kurz oder lang von
dieser fleischfressenden Pflanze verdaut werden. Eine gute
Möglichkeit, um den Leser zu erzählen, wie er in diese Situation
gekommen ist und was Jane damit zu tun hat, die er erst vor wenigen
Tagen kennen gelernt hat. Der Auftakt verrät bereits, dass der Humor
nicht zu kurz kommen wird. Mehrmals drückt Fforde die richtigen
Knöpfe, so dass das Lachen und Schmunzeln, aber auch das
Kopfschütteln angesichts der Gesellschaft nicht zu kurz kommen, in
die der Protagonist hineingeboren wurde.
Ffordes Welt in „Grau“ erscheint
auf dem ersten Blick aberwitzig, entpuppt sich aber bei näherem
Hinsehen als eine knallharte Dystopie. Eddies Leben ist dadurch
bestimmt, dass er ein „Roter“ ist. Er kann mit seinen Augen nur
die Farben wahrnehmen, die sich im roten Farbspektrum befinden. Damit
steht er in der Colorkratie seiner Welt am unteren Ende der Farbskala
und hat sich dementsprechend anzupassen, da noch fünf weitere Farben
in der Hierarchie über ihm stehen. Wie sehr diese das Leben aller
bestimmt, zeigt sich an Eddies Erklärung des Heiratsmarkts. Mag es
zuerst noch witzig erscheinen, wenn die Anzeigen des Heiratsmarkts
mit all ihren Floskeln und farblichen Codes zitiert werden, deutet
sich doch die Trostlosigkeit dieses System bereits an.
Liebeshochzeiten sind sehr selten und die Hochzeit zwischen
komplementären Farben streng verboten, stattdessen wird geschaut
„die beste Verbindung“ herzustellen und dem eigenen Sprössling
einen Aufstieg zu ermöglichen oder doch zumindest so viel Geld wie
möglich für die Farbwahrnehmung des potentiellen Ehepartners
herauszuschlagen. Erinnerungen an Traditionen der Vergangenheit und
die Ideologien mancher Regime werden zwangsläufig in Erinnerung
gerufen. Eddies Welt ist eben doch kein farbenfrohes Paradies,
sondern eine graue Welt, in
der passenderweise diejenigen ohne Farbwahrnehmung, die Grauen, ganz
unten stehen in der Rangordnung und dementsprechend all die Arbeiten
verrichten müssen, für die sich die Farbenseher zu gut sind.
Im weiteren Verlauf des Romans wird
Eddies bisherige Weltanschauung einige Male zerrüttet. Die Graue
Jane öffnet ihm dabei eher unfreiwillig langsam die Augen für das,
worauf diese Gesellschaft aufgebaut ist: Unterdrückung,
Fortschrittsverweigerung, Wissensverlust und Angst. Wie es zu dem
allem kam, lässt Fforde erst einmal außen vor. Hier und da erhascht
der Leser allerdings einen Blick auf unsere Welt, die vor 500 Jahren
noch existiert haben muss. Doch nicht mal der einzige Historiker im
Roman kann erklären, welches großes Ereignis die Veränderungen mit
sich brachte, die Arthur H. Munsells Farbtheorie zum Regelwerk der
Gesellschaft machte. Nur eins scheint in Eddies Welt wichtig: so
viele Farben wie möglich aus den Überbleibseln der Vorherigen zu
extrahieren, um die Gesellschaft – und vor allem die Farbbrunnen
überall im Land, die die Farbsehenden erfreuen – am Laufen zu
halten.
Das alles klingt verrückt? Das ist es
auch und es warten noch mehr Abstrusitäten auf den Leser, die an
dieser Stellen nicht verraten werden sollen. „Grau“ ist ein
faszinierender Trip in eine postapokalyptische Welt, die ganz ohne
die obligatorisch gewordenen Zombies, Aliens oder Killerviren
auskommt. Fforde geht den Weg eines George Orwells, nur dass in
seinem Roman der „Große Bruder“ in Form der Präfekten daher
kommt, die alles kontrollieren können. So wird auch Eddie
schmerzhaft erfahren, welche Macht sie haben und wie schnell sie sein
Leben in eine andere Richtung lenken können.
Fazit:
„Grau“ ist der packender Auftakt
zum neusten Streich des „Thursday Next“-Autors. Mit viel Humor
entführt Jasper Fforde seine Leser in eine dystopische Welt, die so
ganz anders ist, als man sie erwarten würde.
|