Die Novelle vom dicken Holzschnitzer
Story:
Florenz Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Ein Holzschnitzermeister, von allen nur "der Dicke" genannt, kehrt am Abend zurück nach Hause. Aber die Tür seines Hauses bleibt ihm versperrt, und von drinnen hört er seine eigene Stimme rufen: Wer er denn sei und was er wolle? Ein Freund kommt vorbei, spricht den Dicken als "Matteo" an und wundert sich, was dieser Matteo mit dem Dicken zu schaffen habe? Und kurz darauf wird er ins Gefängnis geworfen, da er – Matteo – einem Gläubiger noch Geld schuldig ist. Hat sich der Dicke plötzlich in einen ganz anderen verwandelt?
Meinung:
Es ist eine bedrohliche Vorstellung: Man kommt nach einem langen Arbeitstag nach Hause, aber der Schlüssel mag die Tür nicht aufschließen. Und drinnen ist man offenbar selbst bereits anwesend! Auf der Straße sprechen einen langjährige Freunde mit einem anderen Namen an, und man soll für die Schulden dieses Anderen geradestehen. Wem würden da keine Zweifel kommen, wer man nun tatsächlich ist?
Dieses Szenario ist das Ergebnis eines grausamen Streichs, den einige angesehene Bürger von Florenz dem Holzschnitzer spielen. Denn der Dicke war einem ihrer regelmäßigen Treffen ferngeblieben, was sie als Affront auffassten. Also ziehen sie eine aufwendige Scharade auf, um dem Dicken einzureden, er sei eigentlich gar nicht der Dicke, sondern eben dieser Matteo.
Aufgeschrieben hat die Geschichte der Philologe und Schriftsteller Antonio Manetti in den 1480er Jahren als Novelle in der Tradition des Decamerone. Dabei griff er auf ältere Fassungen zurück, denn bereits seit 1437 zirkulierten die Erlebnisse des Dicken in verschiedenen Fassungen. Einigen Quellen zufolge sollen sogar tatsächliche Ereignisse um 1409 oder 1410 die Basis sein, aber auch die "Vaterschaft" von Plautus' "Amphitruo" und dessen nachklassischen Adaptionen ist nicht zu übersehen. Manettis Leistung ist es vor allem, die verschiedenen Fassungen zusammengeführt und literarisch verbessert zu haben.
Das Ergebnis mag für heutige Leser zunächst ungewohnt sein. Sehr lange, oft mit Semikola verbundene Sätze, Sprünge in der Perspektive, Anmerkungen in Klammern und andere Besonderheiten entsprechend jedoch dem damals Üblichen. Der Text wurde also nicht krampfhaft auf "Lesbarkeit" nach heutigen Maßstäben getrimmt. Aber man hat sich schnell eingelesen und erwischt sich dann selbst dabei, immer wieder zu grinsen – über die Gerissenheit, mit der Filippo und seine Komplizen den Dicken nach ihrer Pfeife tanzen lassen, über die ungeschickten Versuche des Dicken, aus der Situation schlau zu werden. Auch nach über fünfhundert Jahren kann man sich dem Witz der Geschichte kaum entziehen.
Denkt man jedoch einmal darüber nach, was sich hinter dem gelegentlich derben Schwank verbirgt, merkt man, wie ernst und auch wie aktuell das Thema eigentlich ist. Auch nachdem der Streich vorbei ist, kann der Dicke nicht einfach in sein bisheriges Leben zurückkehren. Er ist dem öffentlichen Spott preisgegeben, sein Ansehen, sein Name in der Stadt ist unwiderbringlich zerstört. Er sieht keine andere Chance, als auszuwandern. Aus heutiger Perspektive fallen einem dazu Begriffe wie Mobbing oder Identitätsdiebstahl ("Bestellen wir mal fünfhundert Kondome unter seinem Namen, hohoho") ein. Interessant ist, wie die Geschichte in kleinen Details mit dem Herabwürdigen des Opfers fortfährt. Sein echter Name, Manetto, wird genau einmal ganz am Anfang und einmal ganz am Ende erwähnt, ansonsten ist er durchgehend "der Dicke". Man entzieht ihm quasi noch im Bericht über den Streich seine wirkliche Identität. Und der Text erwähnt ausdrücklich, dass die ganze Aktion vor allem deshalb klappen konnte, weil Manetto etwas naiv sei.
Vor der eigentlichen Novelle enthält der Band eine ausführliche Einleitung, die auch dem historisch interessierten Laien noch Neues bieten kann. Beispielsweise dürfte nicht jedem bekannt gewesen sein, dass einige Jahrzehnte zuvor Menschen in Florenz tatsächlich ihren Namen verloren haben. Mächtige Familien, die zu selbstbewusst geworden waren, wurden nämlich dazu verurteilt, den althergebrachten Namen ihres Geschlechts abzugeben und einen neuen anzunehmen. Wer die Bedeutung des Familiennamens gerade im dynastischen Kontext kennt, weiß, dass es bei so etwas um viel mehr geht als um die Notwendigkeit, neues Briefpapier drucken zu lassen. Überhaupt ist die Geschichte stark an die Realität rückgekoppelt; viele namentlich genannte Personen haben tatsächlich zu dieser Zeit gelebt.
Der kleine Band kann auf mehreren Ebenen überzeugen. Liest man "Die Novelle des dicken Holzschnitzers" nur als witzigen Bericht über einen Streich, bringt das Buch ein paar amüsante Stunden. Als Geschenk für einen historisch oder literatisch Interessierten kann es eine schöne Ergänzung im Bücherregal sein, oder auch ein Ausgangspunkt für weitere Ausflüge in das Italien der frühen Renaissance. Oder man nutzt die Lektüre, um sich über Identität (nicht nur) in der heutigen Gesellschaft Gedanken zu machen. Ein gewisses Maß an Lust am Denken und an Übung im Umgang mit Texten sollte man jedoch mitbringen.
Fazit:
"Die Novelle vom dicken Holzschnitzer" ist eine Geschichte aus der frühen Renaissance, die hier gelungen präsentiert wird. Hinter dem Witz, der auch nach über fünfhundert Jahren noch funktioniert, finden sich auch oder gerade heute aktuelle Gedanken. Der für heutige Leser ungewohnte Textstil des 15. Jahrhunderts erfordert jedoch ein gewisses Maß an intellektueller Investition.
|  |
Antonio Manetti; Matteo Burioni (Einführung)
Die Novelle vom dicken Holzschnitzer
Novella del Grasso Legnaiuolo
Übersetzer: Marianne Schneider
Erscheinungsjahr: 2012
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Wagenbach Verlag
Preis: € 13,90
ISBN: 978-3-8031-1288-0
93 Seiten
|