Midas
Story:
Im Jahr 2016 sollen Peter Kirk und Andrew Baldenham in der Pazifikregion die Bodenstationen eines neuen Satellitensystems in Betrieb nehmen. Aber politische Streitereien verzögern das Projekt, und die beiden Spezialisten können ein paar Tage Urlaub in Sri Lanka einlegen.
Aus der Vernügungsreise wird ein Albtraum, als Andrew bei einem Hotelbrand getötet wird. Bald kommen Peter Zweifel an der offiziellen Version des "Unfalls". Dann erzählt sein einheimischer Fahrer ihm eine unglaubliche Geschichte: An einem Tag habe er gesehen, wie ein hoher Militär eine bekannte Schauspielerin kaltblütig erschoss. Am nächsten Tag habe das Starlet quicklebendig am Arm eines anderen Generals gehangen. Peter glaubt ihm kein Wort, aber er lässt sich überreden, einen Brief der Schauspielerin an ihren alten Regisseur mit nach Amerika zu nehmen. Mit diesem Gefallen macht er jedoch ebenso geheimnisvolle wie skrupellose Mächte auf sich aufmerksam. Und dann erhält Peter auch noch Nachrichten, die unzweifelhaft von seinem Freund Andrew stammen müssen. Baldenham bittet darum, die Nachrichten für ihn selbst aufzubewahren, falls er noch am Leben sei...
Meinung:
Wolfgang Jeschke hat die deutsche Science Fiction in den letzten Jahrzehnten geprägt wie wohl kaum ein Zweiter. Bereits Anfang der 1970er gab der studierte Germanist, Anglizist und Philosoph die Reihe "Science Fiction für Kenner" heraus. Dort fanden sich unter den Autoren bereits Namen wie Brian W. Aldiss, Robert Silverberg, Harry Harrison, Roger Zelasny, Herbert W. Franke und auch Jeschke selbst. 1972 wurden Franke und Jeschke gemeinsam Lektoren und Herausgeber des Science Fiction-Programms des Heyne Verlags. Als Franke einige Jahre später ausschied, übernahm Wolfgang Jeschke alleine das Ruder.
Unter seiner Führung entwickelte sich die Reihe "Heyne Science Fiction und Fantasy" zu einem ebenso erfolgreichen wie titelstarken Teil des Heyne-Programms und einem prägenden Faktor in der deutschen Science Fiction-Landschaft. Unter anderem fungierte Jeschke bei mehr als 100 Anthologien als Herausgeber, in denen er neben etablierten Namen auch jungen Autoren mit ungewöhnlichen Geschichten eine Plattform bot. Diese Anthologien unter verschiedenen Reihentiteln erwiesen sich als mitbestimmend für die Entwicklung der Science Fiction-Literatur in Deutschland. 2002 ging Wolfgang Jeschke in den Ruhestand, gibt aber bis heute das renommierte Science Fiction Jahrbuch gemeinsam mit Sascha Mamczak, seinem Nachfolger bei Heyne.
Jeschke wurde vielfach für seine Arbeit ausgezeichnet, darunter alleine mehr als ein Dutzend Mal mit dem Kurt-Laßwitz-Preis, auch bekannt als der deutsche Nebula Award. Gewürdigt wurde damit neben seiner editorischen Arbeit auch sein eigenes schriftstellerisches Werk, das bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Neben der Arbeit als Redakteur und Herausgeber kam er relativ selten dazu, selbst zu schreiben, seine Romane und Erzählungen fanden jedoch viel Beachtung.
Zu seine preisgekrönten Romans gehört auch "Midas", der 1990 mit dem Kurt-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurde. Die Geschichte spielt in einer von 1989 aus gesehen etwas entfernten Zukunft, in der sich einiges geändert hat, anderes jedoch vertraut erscheint: Raumfahrt gehört zur Routine, Peter wird beispielweise an einer Stelle dem "Dienstags-Shuttle" zugeteilt, um seine Arbeit an dem Satellitensystem fortzusetzen. Auch die Multimedia- und die Biotechnologie haben große Fortschritte gemacht. Künstlich gezüchtete, mit Adrenalin vollgepumpte Mammutmuskeln treiben Luftschiffmotoren an, Pelz wird von hirnlosem Marderfleisch geerntet. Freundliche KIs helfen beim Sortieren der virtuellen Post oder beim Nachschlagen in der weltweiten Bibliothek.
Auf der anderen Seite überziehen sich Staaten in der Dritten Welt mit blutigen Scharmützeln, schrecken aber aus Angst vor der Atombombe vor "richtigen" Kriegen zurück. Und in vielen armen Staaten sind Weiße nicht gut gelitten, seit vor allem die USA um die Jahrtausendwende Unsummen lieber in die Weltraumfahrt als in die Bekämpfung der Hungerkatastrophen gesteckt hat.
Vor dieser Kulisse lässt Jeschke seine Geschichte ablaufen, die im Bezug auf menschliche Gier und Skrupellosigkeit noch ein gutes Stück darüber hinausgeht. Dabei erinnert der Erzählstil vor allem zu Beginn an eine Reportage, was es dem Leser nicht gerade leichter macht, in die Handlung "hinein" zu kommen. Bis man sich mit dem Ich-Erzähler Peter identifiziert, dauert es seine Zeit. Ebenfalls zunächst unerklärt bleiben die beiden kurzen Fragmente, die dem Roman vorangestellt sind, die aber später noch ein wichtige Rolle spielen.
Trotz, oder vielleicht gerade durch diese relativ reservierte Betrachtungsweise wirkt das, was der Autor dann nach und nach enthüllt, erstaunlich intensiv auf den Leser. Ohne zu viel verraten zu wollen, aber der Untertitel "Die Auferstehung des Fleisches" hat seinen Grund, meint aber nicht, was man zunächst vermuten könnte. Und die damit verbundene abscheuliche Art und Weise einiger Charaktere, mit anderen Menschen umzugehen, macht einen als Leser regelrecht wütend.
Man beginnt darüber nachzudenken, was eigentlich einen Menschen ausmacht, was eine Person ausmacht. Und in gewissem Sinne ist der Roman auch ein Vehikel für Überlegungen zu diesen Themen. Wer eine hochemotionale Geschichte zum "Mitfiebern" oder ein wildes Actionabenteuer erwartet, ist hier falsch. Das soll nicht heißen, dass es keine Spannung gäbe. Peter kann mehrfach nur mit knapper Not seine Haut retten.
"Midas" regt eher den Intellekt an. An einigen Stellen muss man auch geistig auf dem Sprung sein, um der Handlung folgen zu können. Diese Konzentrationsübungen halten sich jedoch in Grenzen, ebenso wie die gelegentlich ausufernden Beschreibungen. Beispielsweise widmet sich der Autor ausführlich dem Anblick, der sich von einem Aussichtspunkt aus bietet, während der Leser eigentlich nur wissen will, wen Peter an diesem Aussichtspunkt treffen wird. Das kann die Nerven strapazieren, kommt aber nur selten vor.
Auch die technische Seite wird kaum bis gar nicht beleuchtet. Stattdessen konzentriert sich Jeschke auf die Auswirkungen, die die nennen wir es "neue Technologie" auf die betroffenen Menschen hat. Zusätzlich deutet er Implikationen für die Gesellschaft insgesamt an. Und das sind Fragen, die wir uns heute durchaus stellen sollten. Science Fiction im besten Sinne – im Gewand der Zukunft Gedanken über die Gegenwart.
Insgesamt ist "Midas" ein Roman, der sich nicht einfach erschließt. Einige Mankos findet der Leser gleich, die sehr wohl umfangreichen Qualitäten erkennt man oft erst, wenn man sich etwas Gedanken über die Geschichte und die dahinterstehenden Fragen macht.
Fazit:
Als Redakteur und Herausgeber hat Wolfgang Jeschke über 30 Jahre die deutsche Science Fiction-Landschaft entscheidend geprägt. Auch als Autor kann er auf ein beachtliches Werk zurückblicken, was "Midas" beispielhaft zeigt. Der Roman spricht eher den Intellekt als die Empathie oder die Abenteuerlust seiner Leser an, und so manche seiner Qualitäten erschließen sich erst, wenn man sich etwas Gedanken über die Geschichte und die dahinterstehenden Fragen macht.
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Wolfgang Jeschke
Midas
Erscheinungsjahr: 1993
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Heyne Verlag
ISBN: 3-453-06228-0
236 Seiten
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