Sturz der Titanen
Story:
Ken Folletts Bekanntheitsgrad ist seit dem Erscheinen seiner ersten Romane beständig und völlig zu recht gestiegen. Die packende Handlung aus „Die Nadel“ (1979) nahm viele Leser gefangen und auch die skurrilen Charaktere vor dem ernsten Hintergrund des D-Days in „Die Leoparden“ ließen sie nicht los. „Die Säulen der Erde“ (1990) gefolgt von „Die Tore der Welt“ (2008) sind beeindruckende, eine ganze Epoche plastisch beschreibende Werke.
Mit „Sturz der Titanen“ legt der geborene Waliser wieder ein Stück Literatur mit großem Anspruch vor. Der Handlungsrahmen könnte nur schwerlich komplexer sein: Die erste Seite des Romans trägt das Datum 22. Juni 1911: Der Tag an dem George V. den englischen Thron besteigt. Nach mehr als 1000 Seiten endet das Buch im Januar 1924 kurz vor einer ganz besonderen Parlamentswahl in Großbritannien. In diesen 13 Jahren wurde die Welt von einem Krieg bisher ungekannten Ausmaßes erschüttert, erkämpften sich Frauen das Wahlrecht, wurde in Russland gewaltsam die Leibeigenschaft abgeschafft und der Zar entmachtet, während in Deutschland der letzte Kaiser abdankte. Die alten, bestehenden Mächte werden in Frage gestellt und jeder Einzelne muss in dieser Welt seinen Platz neu finden.
Die Leser begleiten einige Menschen auf ihrem steinigen Weg durch diese unglaubliche Epoche der Weltgeschichte. Drei Familien aus England, Deutschland und Russland stellen die Hauptcharaktere des Romans.
Meinung:
Die beiden russischen Brüder Grigori und Lew Peschkow wachsen als
Waisen auf und entwickeln sich sehr unterschiedlich. Der eine wandert
aus und findet sein Glück in Amerika, während der andere die russische
Revolution an der Seite von Trotzki und Lenin begleitet.
Spannend gestaltet und erzählerisch gut umgesetzt, ist die
Interaktion eben solcher historischer Persönlichkeiten mit den fiktiven
Charakteren des Romans. Follet selbst beschreibt seine Art mit diesem
Spagat umzugehen, in einem Interview in etwa wie folgt: Er versuche alles so
zu schildern, wie es tatsächlich war und die fiktiven Teile so, dass sie
sich so zugetragen haben könnten, im zeitlichen und sachlichen Kontext.
Familie
von Ulrich stellt die deutschen Aristokraten dar. Ein
stockkonservativer Vater und der demokratisch gesinnte, aber sehr
pflichtbewusste Walter von Ulrich stehen für den Konflikt der
Generationen, der schon zu Beginn des Krieges auch in Deutschland für
Spannungen gesorgt hat. Das sowieso nicht einfache Los Walters in einem
Krieg zu kämpfen, hinter dessen Zielen er nicht steht, wird noch dadurch
erschwert, dass er sich in Lady Maud - ausgerechnet eine britische
Adlige – verliebt und diese kurz vor Kriegsausbruch in aller
Heimlichkeit heiratet. In England schließlich schauen wir der
Bergarbeiter-Familie Williams rund um die intelligente Ethel und ihren
leidenschaftlichen Bruder Billy, sowie dem Adelshaus um Earl Fitzherbert
über die Schulter. Ethel, Tochter eines streng gläubigen Vaters, bringt Schande
über ihre Familie als sie von Earl Fitzherbert ein Kind erwartet. Fortan
geht sie als Kämpferin für die Rechte der Frauen ihren eigenen Weg. Und
auch ihr Bruder Billy wird kein Unbekannter bleiben, wenn es darum geht
auf Missstände in der britischen Politik aufmerksam zu machen. Der Earl
schließlich ist gefangen in althergebrachten Wertvorstellungen und hat
zunehmend Schwierigkeiten sich mit der neuen Weltordnung abzufinden. Der
„Sturz der Titanen“ ist in vollem Gange.
Die Entscheidung zu fällen, welche Figur einem sympathisch ist und wer es nicht anders verdient, ist alles andere als einfach. Das ist ein gutes Zeichen, kennt doch das Leben auch nicht nur edle Ritter und finstere Unholde. Das englische Adlige ihre Leibeigenen eindeutig besser behandelt haben, als russische Despoten, die ihre Untergebenen regelmäßig hängten, erschossen und bis auf Blut ausbeuteten, ist allerdings trotz aller Unvoreingenommenheit jedem Leser am Ende des Romans klar.
Das bei etwas mehr als eintausend Seiten hin und wieder erzählerische Längen auftreten, ist zu erwarten. Das grundlegende Interesse an dem so spannenden Handlungsrahmen verleitet doch immer wieder dazu auch die Passagen zu lesen, die dem eigenen Leser-Profil weniger entsprechend. Denn obwohl es sich um einen historischen Gesellschaftsroman handelt, kommen auch die Gefühle und Beziehungen der Protagonisten untereinander nicht zu kurz. Wurde doch, obwohl Europa im Ausnahmezustand war, gefühlt, geliebt, gelitten, verletzt und vergeben.
Optik und Haptik des "Sturz der Titanen" passen zum inhaltlichen Gewicht des Buches. Die Bleistift-Illustrationen von Tina Dreher zu Beginn der einzelnen Abschnitte fügen sich wunderbar ins Zeitgeschehen und lassen das Buch hochwertig wirken. Der pergamentfarbende Schutzumschlag passt zu dem gelben Lesebändchen. Das Personenverzeichnis ist bei einem Roman mit diesen Ausmaßen mehr als schmückendes Beiwerk und hilft den Überblick zu behalten, beziehungsweise auch nach einer Lesepause den Einstieg wieder zu finden.
Fazit:
Viele Nebencharaktere real oder fiktiv lassen ein Zeitbild vor den Augen
des Lesers entstehen, dessen politischer Hintergrund wohl kaum
brisanter sein könnte. Eine tolle Chance quasi im Vorbeigehen zu
verstehen, was damals passiert ist. Wie konnte es trotz vieler
intelligenter Menschen in verantwortlichen Positionen dazu kommen, dass
ganze Nationen sich wegen einer Frage der Ehre zu einem Krieg haben
hinreißen lassen, dessen Wunden noch heute nicht verheilt sind? Das Buch
stellt keinen Versuch einer Rechtfertigung dar, legt aber plastisch die
Sichtweisen der beteiligten Parteien dar. Keiner ist den ersten
Schritt gegangen.
Einfühlsam, gekonnt erzählt und in bewährter Manier detailliert recherchiert nähert sich Follett dem komplexen historischen Setting und ermöglicht dem Leser die Teilnahme an einer bahnbrechenden Epoche, ohne Beklemmung auszulösen. Große Klasse!
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