Die Insel des Magiers
Story:
Die Geschichte von Prospero und seiner Tochter Miranda hat ein anderer Dichter bereits erzählt. Am Schluss der Geschichte werden sie von der Insel, auf die sie verbannt wurden, gerettet, der ehemalige Herzog von Mailand erhält Amt und Würden zurück, und die junge Frau heiratet den Sohn des Königs von Neapel.
Am Schluss? Nein, denn die Geschichte findet hier noch nicht ihr Ende. Zwanzig Jahre später erhält Miranda unerwarteten Besuch: Kaliban, der missgestaltete Sklave Prosperos und damalige Spielgefährte des Mädchens auf der Insel, steht vor ihrem Bett. Er will Rache für alle Leiden, die ihm zugefügt wurden. Sein ehemaliger Meister ist mittlerweile an Altersschwäche gestorben und hat sich damit der Vergeltung entzogen. Aber Miranda soll nun sterben, jedoch nicht, bevor Kaliban ihr alles erzählt hat – die ganze Geschichte, aus seiner Sicht...
Meinung:
Man sagt, Geschichte werde immer von den Siegern geschrieben. Tad Williams hat dieses Prinzip auf die fiktive Geschichte angewandt und Shakespeares "Der Sturm" von Kaliban erzählen lassen. Der halb menschliche, halb tierische Sklave des verbannten Prospero kommt in der Version des Barden nicht gerade gut weg: Er lohnt die anfängliche Freundlichkeit der Menschen damit, dass er versucht, sich an der jungen Miranda zu vergreifen. Ob er sie vergewaltigen oder verführen will, da legt sich Shakespeare nicht fest. Prospero versklavt ihn daraufhin. Nachdem der König und seine Mannschaft auf der Insel ankommen, sucht sich Kaliban den trunksüchtigen Stephano als neuen Meister. Er soll seinen bisherigen Herrn töten und dessen Platz einnehmen. Aber der Sklave muss erkennen, dass es besser für ihn ist, wenn Prospero sein Meister ist.
In der Analyse des "Sturms" wird Kaliban oft als Metapher für die ungezähmte Natur gesehen, im Gegensatz zum gelehrten und magiekundigen Prospero, der für die Kultur steht. Der ehemalige Herzog kann seine Triebe kontrollieren, während sein Sklave nicht über diese Fähigkeit verfügt. Damit, so wurde vor allem seit der Renaissance oft argumentiert, sei letzterer quasi dazu geschaffen, beherrscht und benutzt zu werden. So wurde auch oft die Unterwerfung "wilder" Völker im Kolonialzeitalter ethisch gerechtfertigt.
Tad Williams ist vor allem für seine großen Romanzyklen wie "Otherland" oder "Die Saga von Osten Ard" bekannt. Zu seinen Werken gehört aber auch der kurze Band "Die Insel des Magiers", in dem er ein ganz anderes Bild von Kaliban zeichnet. Auch hier ist er ein "Kind der Natur", aber die Zivilisation, die ihm in Gestalt von Prospero und Miranda begegnet, ist kein Segen, sondern eher ein Fluch. Kaliban beklagt sich mehrfach darüber, dass insbesondere das Geschenk der Sprache, der Worte, das die beiden ihm gemacht hätten, eine vergiftete Gabe gewesen sei. Denn was nützt ihm die Möglichkeit, Dinge zu benennen, wenn nach der Abreise der anderen niemand mehr da ist, dem gegenüber er die Worte gebrauchen könnte? So fühlt er die Einsamkeit nur um so stärker. Und tut es nicht um so mehr weh, wenn er nur in Begriffen denken kann, die ihm von denjenigen verliehen wurden, die ihm so weh getan haben?
Denn Prospero und auch Miranda gehen nicht gerade vorbildlich mit dem Jungen um, den sie in ihrem Exil vorfinden. Der abgesetzte Herzog spannt ihn nach und nach als seinen Helfer, Diener, Sklaven ein, während er sich sukzessive die Insel Stück für Stück aneignet. Nachdem sie ein Haus gebaut haben – oder besser, nachdem Kaliban das Haus gebaut hat –, bekommt der ein Zimmer dort zugewiesen, das er ganz für sich alleine habe. Er, der früher der Herr der ganzen Insel war, bekommt jetzt gnädig einen kleinen Schuppen zugeteilt.
Miranda wächst über die Jahre vom kleinen Mädchen zur jungen Frau heran, was natürlich auch ihrem Freund und Spielgefährten nicht entgeht. Eines Tages überwältigen ihn seine für ihn unerklärlichen Triebe, und er macht ihr heftige Avancen. Sie flieht zu ihrem Vater, der Kaliban daraufhin fast zum Krüppel prügelt. Obwohl sie Mitleid mit dem Geschundenen hat, wagt sie es nicht, sich mehr gegen ihren Vater zu stellen als mit der Bitte, das nackte Leben ihres Freundes zu schonen.
Williams zeigt auch in dieser Geschichte, dass er über ein nur wenigen anderen erreichtes Erzähltalent verfügt. Kalibans Lebenserinnerungen faszinieren und lassen den Ich-Erzähler, dessen Bericht gegenüber Miranda nur in eine knappe Rahmenhandlung eingebettet ist, schnell sympathisch werden. Man glaubt ihm ohne weiteres, dass er das Opfer ist und die anderen nicht so edel und gut sind wie sie gemeinhin dargestellt werden. An vielen Stellen möchte man eingreifen und insbesondere Prospero den Kopf zurecht rücken. Es wirkt, als hätte der Autor gerade bei diesen beiden, dem Magier und seinem Sklaven, die Rollen von Protagonist und Antagonist gerade umgekehrt.
Die Tochter des ehemaligen Herzogs kommt etwas besser weg als ihr Vater, aber auch ihr werden einige Vorwürfe gemacht. Dazu gehört insbesondere ihr Unvermögen, sich gegen Prospero zu stellen, auch wenn sie erkannt hat, dass dieser Unrecht tut. Heute würde man wohl von mangelnder Zivilcourage sprechen.
Auf dieses Figurendreieck beschränkt sich Williams. Andere wie Kalibans Mutter, die Hexe Sycorax oder König Alonsos Gefolge tauchen nur als Objekte des Berichts des Ich-Erzählers auf, oder sie haben maximal kurze Auftritte in der Rahmenhandlung. Prosperos anderer Diener Ariel bildet hier eine Ausnahme, aber er kann weitgehend als "verlängerter Arm" des Magiers gesehen werden. Diese Konzentration ermöglicht es dem Autor, die Beziehungen zwischen diesen drei Charakteren, besonders aber die für uns "Kultivierte" ungewohnte Sichtweise Kalibans auf die beiden anderen, genau auszuleuchten.
Man könnte sagen, diese Fassung der vertrauten Geschichte ist ein Plädoyer für mehr Kommunikation. Die beiden Verbannten wollen dem Sohn der Hexe, der auf der Insel aufgewachsen ist, ihre Lebensvorstellungen und Werte überstülpen und wundern sich, dass das nicht von Erfolg gekrönt ist. An ihrem Wesen sollen die anderen gefälligst genesen. Aber auch abgesehen von allen soziologischen und ethischen Überlegungen hat Tad Williams einfach "nur" eine poetische und anrührende Geschichte geschrieben. Leider ist der Band derzeit verlagsvergriffen, aber wie stets bei Tad Williams rechtfertigt auch "Die Insel des Magiers" ein wenig mehr Mühe bei der Suche auf dem Gebrauchtmarkt.
Fazit:
Tad Williams erzählt die Geschichte von Shakespeares "Der Sturm" aus einer ungewohnten Perspektive, nämlich aus der Sicht von Prosperos Diener Kaliban. Der Autor hat ein überzeugendes Plädoyer für mehr Kommunikation und dagegen, anderen einfach die eigene Lebenswese überzustülpen, geschrieben – von einer poetischen und anrührenden Geschichte ganz abgesehen.
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Tad Williams
Die Insel des Magiers
Caliban\'s Hour
Übersetzer: Hans-Ulrich Möhring
Erscheinungsjahr: 2005
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
dtv
ISBN: 978-3423208284
173 Seiten
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