Handys beherrschen schon längst mehr als "nur" das Telefonieren. Der Benutzer kann Text- oder Bildnachrichten verschicken, Fotos schießen, Musik hören, Termine planen und vieles mehr. Das Lesen längerer Texte oder ganzer Bücher auf dem kleinen Handydisplay ist jedoch nicht jedermanns Sache.
Ein britisches Startup-Unternehmen will das ändern. ICUE beschreibt sein Angebot als Mischung aus Amazon und iPod. Der Benutzer kann Bücher direkt von Handy aus kaufen, herunterladen und lesen. Dabei muß er nicht selbst durch einen langen Text scrollen: Die Software von ICUE zeigt das Buch Wort für Wort oder Teilsatz für Teilsatz auf dem Handydisplay an. Der Benutzer kann dabei die Geschwindigkeit regeln, vor- oder zurückspulen oder pausieren. Kommt ein Anruf, setzt ICUE automatisch ein Lesezeichen.
Das Prinzip orientiert sich an sogenannten "Tachistoskopen". Mit einem Tachistoskop ist es möglich, optische Reize wie beispielsweise Bilder für sehr kurze, genau bemessene Zeiträume zu zeigen. Entwickelt wurde die Technik ursprünglich von der amerikanischen Luftwaffe. Die Piloten wurden darauf trainiert, die Typen feindlicher Flugzeuge schnell und aus größerer Entfernung zu erkennen. Heute werden Tachistoskope auch in der Forschung für wahrnehmungspsychologische Experimente oder zum Testen von Werbemitteln eingesetzt: Je kürzer beispielsweise ein Firmenlogo eingeblendet werden muß, damit es der Betrachter gerade noch erkennt, desto markanter ist es.
Einen schlechten Ruf bekam die Technik durch Experimente des Marktforschers James Vicary in den Fünfzigern: Durch kurze, nicht bewußt wahrnehmbare Einblendungen in einem Kinofilm - "Trink Cola!" oder "Iss Popcorn!" - wollte Vicary das Publikum beeinflußt haben, deutlich mehr Snacks und Getränke zu kaufen. Später mußte er jedoch zugeben, dass er die Ergebnisse seines Experiments gefälscht hatte. Die Einblendungen hatten keinen meßbaren Effekt auf die Verkaufszahlen.
ICUE konnte nach eigenen Angaben bisher etwa 10.000 Leser von ihrer Idee überzeugen. Der Katalog an Büchern, die abschnittsweise auf dem Handy-Display angezeigt werden können, umfaßt mehrere hundert Bücher aus den verschiedensten Bereichen und Genres. Auf Seiten der Anbieter arbeiten die meisten britischen Verlage mit ICUE zusammen, unter anderem Egmont Press, HarperCollins, Pan Macmillan, Pearson und Simon & Schuster. Im Durchschnitt kostet ein E-Book 5 Pfund (etwa 7,40 Euro). Ein handelsübliches Handy soll 100 bis 200 Bücher aufnehmen können, neuere Generationen sogar bis zu 400.
Cally Poplak, Direktorin bei Egmont Press, sieht in ICUE auch einen Weg, Bücher über längere Zeit verkaufen zu können. Normalerweise gehe der Absatz eines Titels stark zurück, sobald die ersten Händler ihn aus dem Regal nehmen, um Platz für den nächsten zu machen. "Ich habe langsam genug davon, sensationell gute Teenager-Romane abzulehnen, weil es immer so ein Kampf ist, Auflagen zu erreichen, die groß genug sind", wird Poplak von Technology Review zitiert.
ICUEs Managing Director Jane Tappuni sieht eine große Zukunft für ihr Unternehmen und seine Produkte. Untersuchungen hätten herausgefunden, dass 90 Prozent aller britischen 13- bis 16jährigen Handys nutzen. Und 80 Prozent derjenigen, die sich die kostenlose Software und Beispieltexte herunterladen, kauften später auch E-Books. Nach eigenen Angaben rufen auch immer öfter Lehrer bei Tappuni an, ob bestimmte Lehrbücher für ICUE verfügbar sind.
Experten teilen Tappunis Optimismus durchaus: "Die steigende Verwendung von Handys könnte die Schüler mit verschiedenen Texten in Berührung bringen", zitiert Technology Review den Bildungspsychologen Richard Thurlow. Ein Erfolg von ICUE und ähnlichen Angeboten könnte vor allem auf Kosten von eigenständigen E-Book-Readern wie dem erst vor einiger Zeit vorgestellten Sony Reader gehen. Michael Hart, Mitbegründer des Projekts Gutenberg, hält Hardware-Reader wie das Sony-Gerät im Internet-Zeitalter grundsätzlich für den falschen Ansatz. Pro Jahr würden rund eine Milliarde Handys produziert: "Da kann man einfach nicht mithalten."
ICUE konzentriert sich zu Beginn bewußt auf Kinder- und Jugendliteratur. Zum einen seien junge Menschen generell eher bereit, Software und Inhalte auf ihre Handys herunterzuladen. Zum anderen wollten sie dazu beitragen, Kinder und Jugendliche stärker zum Lesen zu bringen.
Seit dem Frühjahr 2005 bietet ICUE seine Dienste in Großbritannien an. Eine Ausweitung auf die USA ist bereits angedacht. Ob und wann auch Handy-Besitzer in Deutschland sich "Krieg und Frieden" Wort für Wort anzeigen lassen können, steht noch nicht fest.
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