Die Analphabetin, die rechnen konnte
Story:
Die Südafrikanerin Nombeko verdient sich ihren Lebensunterhalt als Latrinentonnenträgerin und kann besser rechnen als ihr Chef. Als sie ihren Job im Zuge einer Restrukturierung verliert, findet sie nicht nur die Zeit, das Lesen zu lernen, sondern erbt auch noch die Diamantsammlung ihres Lehrers. Von der neugewonnenen Freiheit hat sie jedoch wenig. Sie wird in einen Autounfall verwickelt und für schuldig befunden, diesen verursacht zu haben. Die Schuld muss sie bei einem Ingenieur in dessen atomarer Forschungseinrichtung absitzen - und entpuppt sich sehr zum Verdruss des Chefs als mathematisches Genie, das die Entwicklung südafrikanischer Atombomben voran bringt.
Nahezu zeitgleich werden knapp 9.500 Kilometer entfernt die Zwillinge Holger und Holger von ihrem Vater zu Monarchiehassern und Republikliebhabern erzogen, die das Königshaus stürzen sollen. Die Wege der jungen Männer kreuzen sich mit denen von Nombeko. Doch die junge Frau hat eine Überraschung mitgebracht: eine unregistrierte Atombombe befindet sich nach dem Ende der Apartheid in ihrem Besitz und hat den Weg ins skandinavische Königreich gefunden.
Meinung:
Jonassons Erstling "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" hat monatelang die Bestsellerlisten dominiert. Selbst die Taschenbuchausgabe befindet sich drei Jahre nach dem Erscheinen des Romans immer noch in den Top 20 der Spiegel-Bestsellerliste. In diesem Jahr sorgte die Verfilmung von Felix Herngren für Furore im Kino und zusätzlichen Absatz in den deutschen Buchläden.
Bei einem solchen Erfolg stellt sich zwangsläufig die Frage, ob der neueste Roman des Autors aus Växjö der Erwartungshaltung von Lesern und Feuilleton gerecht werden kann. "Die Analphabetin, die rechnen konnte" stieg gleich auf Platz eins der Bestsellerliste ein und beweist, dass Jonassons Debüt keine Eintagsfliege war. Während der "Hundertjährige" auf die Irrungen, Wirrungen und Schrecken des 20. Jahrhunderts zurückblicken konnte, stehen im zweiten Roman wenige Jahrzehnte im Fokus, die für Südafrika entscheidend sein sollten.
Jonassons farbige Heldin Nombeko lebt zum Zeitpunkt der Apartheid in dem Land und bekommt die rassistischen Ressentiments tagtäglich zu spüren. Als Latrinentonnenträgerin verdient sie sich ihren spärlichen Lebensunterhalt, nachdem sie zur Waisen wurde. Sie kann zwar nicht schreiben, ist jedoch gut im Rechnen. So gut, dass sie ihren Job schließlich verliert und bei einem älteren Mann das Lesen lernen kann. Dieser stirbt und hinterlässt ihr ungewollt sein Erbe: mehrere Diamanten. Doch Nombekos Glück hält nicht lange. Sie wird in einen Autounfall verwickelt und als Unfallverursacherin dazu verurteilt, dem eigentlich Verantwortlichen de facto als Sklavin zu dienen. In der Forschungseinrichtung von Ingenieur van der Westhuizen ackert sie sich als "Hilfs- und Putzkraft" durch dessen Bibliothek und Arbeiten. Der Ingenieur erkennt das Talent der jungen Frau und nutzt es schamlos für seine Zwecke aus. Er würde nämlich die Genialität seiner "Mitarbeiterin" aus ideologischen Gründen niemals anerkennen. Und so hilft Nombeko dem südafrikanischen Regime bei der Entwicklung der Atombombe. Am Ende sind es sieben Bomben, eine mehr als beabsichtigt - und diese findet nach dem Ende der Apartheid zusammen mit ihr Asyl in Schweden.
Kontrastiert werden die Geschehnisse in Südafrika mit Ereignissen in Schweden. Hier erzieht Ingmar Qvist seine Zwillinge Holger und Holger zu Republikanern, die eines Tages den schwedischen König stürzen sollen. Doch die beiden Brüder sind von Grund auf verschieden. Während der eine begierig die monarchieverachtenden Triaden seines Vaters in sich aufnimmt, zweifelt der andere an dem Hass seines Vaters, der die Mutter unter die Erde gebracht und das wenige Geld der Familie aufgezehrt hat. Letzterer verliebt sich in Nombeko, während ersterer eine ähnlich tickende Freundin findet. Eins ist Holger klar: die Bombe darf nicht in die Hände seines fanatischen Bruders und dessen Freundin gelangen. Doch leider bekommen die beiden nach einigen Jahren Wind von der nuklearen Waffe in der viel zu großen Kiste...
Im Kern von Jonassons unterhaltsamer und aberwitziger Erzählung stehen verheerende ideologische Vorstellungen und Technologien, die das vergangene Jahrhundert geprägt haben. Auf der einen Seite steht das südafrikanische Apartheidsregime, das die farbige Bevölkerung als minderwertig und ohne Rechte angesehen hat. In dieser Zeit wuchsen abertausende von Kindern wie Nombeko in den Slums der großen Städte auf und erhielten so gut wie keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben.
Der Humor bleibt einem angesichts der realen historischen Ereignisse dann und wann im Halse stecken, verdeutlicht aber gerade dadurch, wie ungerecht die Zustände damals in Südafrika waren. Diese Erzählkunst wandte Jonasson bereits erfolgreich im "Hundertjährigen" an. Sie verliert auch in "Die Analphabetin, die rechnen konnte" nichts von ihrem Reiz. Auf der anderen Seite steht die Atombombe, mit der sich schon der "Hundertjährige" eingängig beschäftigt hatte und so zum verbindenden Element der beiden Romane wird. Es fehlt nur ein Gastauftritt von Allan Karlsson.
Fazit:
Mit "Die Analphabetin, die rechnen konnte" legt Jonasson
einen weiteren unterhaltsamen Roman vor, der abermals die Irrungen und
Wirrungen des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Mit einer Prise schwarzen Humors
garniert, erweist sich seine Geschichtsstunde als eine sehr nachhaltige. Bleibt
nur die Frage, womit der Schwede demnächst seine Leser überrascht. An
historischen Ereignissen herrscht wahrlich kein Mangel.
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