Das Gelübde
Story:
Im September 1818 kommt ein junger Mann im westfälischen Dülmen an. Er will eine junge Frau besuchen, deren Schicksal sich weit über die Stadtgrenzen hinweg herumgesprochen hat: Die Nonne Anna Katharina Emmerick ist von Stigmata gekennzeichnet - Wunden an den Stellen, wo man sich die Kreuzigungswunden Christi vorstellt, die immer wieder stark bluten und nie verheilen. Sein älterer Bruder hat Clemens Brentano die Reise ans Herz gelegt, denn Brentano ist Atheist, und seine Familie hofft, dass er im Angesicht dieses Wunders wieder in den Schoß der Kirche zurückfindet. Clemens Brentano ist tatsächlich sehr von Anna Katharina beeindruckt - aber auf ganz andere Weise. Bald schon fühlt Clemens sich unwiderstehlich in Annas Welt hineingezogen. Was wird ihn dort erwarten? Und wer ist die geheimnisvolle Frau in Schwarz, die Clemens ebenso in seinen Träumen wie auch im wachen Zustand sieht?
Meinung:
Dieser Rezensent hatte seinerzeit einen Religionslehrer, von dem es folgendes Zitat in die Abizeitung schaffte: Auf die Bemerkung eines Schülers, dass die aus vielen Kirchen bekannten Marienstatuen doch wohl niemand erotisch finden könne, fragte der Lehrer sinngemäß zurück, ob der Schüler sich die Statuen denn schon einmal genau angesehen habe? In gewisser Weise kommt diese Bemerkung der in "Das Gelübde" erzählten Geschichte erstaunlich nahe.
Aber der Reihe nach. Viele von Kai Meyers Geschichten spielen in vollständig phantastischen Welten. Aber wie bei jeder guten Phantastik gibt es immer, mehr oder weniger deutlich sichtbar, Wurzeln in unserer Realität. Gelegentlich sind diese Wurzeln bei Meyer auch offensichtlicher, wie etwa wenn die Gebrüder Grimm ein unheimliches Komplott im klassischen Weimar verwickelt werden oder Doktor Faustus sich mit einem der berüchtigsten Päpste der Kirchengeschichte anlegt. Für "Das Gelübde" hat sich Meyer sogar von einer tatsächlich stattgefundenen Geschichte inspirieren lassen, ihr aber seine eigene Auflösung, gewissermaßen seine eigene Bedeutung gegeben.
Clemens Brentano (nicht zu verwechseln mit dem Diplomaten Clemens von Brentano, der ein rundes Jahrhundert später lebte) war ein deutscher Dichter und neben Achim von Arnim ein prägender Vertreter der Heidelberger Romantik. Auch Anna Katharina Emmerick ist historisch. Die Ordensschwester im Augustinerorden trug zeitgenössischen Berichten zufolge tatsächlich die Wundmale Christi und soll mystische Visionen gehabt haben. 2004 sprach der damalige Papst Johannes Paul II. die Nonne selig.
Brentano hielt sich von 1819 bis zu ihren Tod 1824 in Dülmen auf und besuchte Emmerick regelmäßig. Aus den Notizen, die er sich bei ihren Gesprächen machte, entstand ein Textfundus von rund 14.000 Seiten. Darin verband er Emmericks Erzählungen mit eigenen Anmerkungen und dichterischen Passagen.
So viel zur Historie, was macht Meyer nun aus dieser Geschichte? Er macht daraus eine zärtliche, anrührende, berührende Liebesgeschichte. Anna zieht Clements sofort in ihren Bann, und auch wenn es nie wirklich ausgesprochen wird, ist schnell klar, dass er sich immer mehr in sie verliebt. Was sie ihm gegenüber empfindet, wird noch weniger offen ausgesprochen, aber jedenfalls wird er für sie zu einem engen Freund und Vertrauten.
Beide sind auch verbunden durch gemeinsame Visionen von einer Frau in Schwarz, deren Verlockungen beide nicht widerstehen können. Hier ist auch die Verbindung zum eingangs genannten Zitat: Anna ist nicht zuletzt für ihre Visionen von der Jungfrau Maria bekannt und berühmt. Was sie aber nur Clemens anvertraut, ist dass die Begegnungen mit eben dieser Frau in Schwarz, die sie für die Gottesmutter hält, dezidiert erotisch verlaufen.
Auch der Roman ist ausgesprochen sinnlich und zumindest an einigen Stellen offen erotisch. Dabei schafft es Meyer, den "tumben", plumpen Sex praktisch komplett zu vermeiden, die in solchen Passagen oft mitschwingende voyeuristischen Untertöne zumindest sehr weitgehend. Wer bisher noch nicht wusste, wie erregend alleine das Haar des geliebten Partners sein kann, dem könnte "Das Gelübde" ganz neue Welten erschließen - oder ihn verständnislos zurücklassen. Für zu junge Leser ist der Roman aus nachvollziehbaren Gründen jedoch nicht geeignet.
An dieser Stelle findet auch das Phantastische, das der Leser von Kai Meyer gewohnt ist, Eingang in die Geschichte. Clemens und Anna teilen die gleichen Visionen von einer unwiderstehlichen Frau. Und ob sie nun die Jungfrau Maria ist oder jemand ganz anderes, es scheint eine Gefahr von ihr auszugehen. Wie das genau innerhalb des Romanuniversum "funktioniert", klärt der Autor nicht auf. Das tut der Geschichte merklich gut, weil dadurch - ähnlich wie es in einer guten Beziehung der Fall ist - immer ein kleiner Rest eines Geheimnisses zurückbleibt - etwas, das man vielleicht erkunden könnte, das man aber auch einfach nur unberührt lassen kann.
Dass Meyer erzählen kann, hat er bereits in vielen Büchern bewiesen. "Das Gelübde" ist ein erneuter Beleg. Nicht in den erotischen Passagen gelingt es ihm, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Die Erlebnisse und Gefühle des Ich-Erzählers Clemens Brentano kann der Leser praktisch unmittelbar nacherleben und nach-empfinden.
Insgesamt ist "Das Gelübde" ein feiner, kleiner Roman, der besonders Freunden stimmungsvoller Sinnlichkeit Freude bereiten wird. Wer den prallen Porno in der Verkleidung eines phantastischen Romans sucht, wird hier nicht fündig. Am Ende bleibt aber trotzdem irgendwie der Eindruck eines One-Night-Stands zurücks: Es war schön, aber es ist unbestreitbar vorbei, Fortsetzung ausgeschlossen. Schade eigentlich. Nicht nur die beiden Protagonisten, auch sicher viele Leser hätten sich zumindest einen Hauch von "happily ever after" gewünscht.
Anmerkung: "Das Gelübde" ist in mehreren Auflagen mit unterschiedlicher Aufmachung und auch bei unterschiedlichen Verlagen erschienen. Aktuell ist die Ausgabe bei Bastei Lübbe von 2006.
Fazit:
Auf der Basis einer wahren Geschichte erzählt Kai Meyer eine an- und berührende Liebesgeschichte mit dezidiert erotischer Komponente. Das artet nie in plumpen Sex aus, für zu junge Leser ist "Das Gelübde" trotzdem nichts. Alle anderen können sich auf einen weiteren Beleg für Meyersche Erzählkunst freuen. Nur das Ende hätte sich wohl mancher Leser etwas weniger endgültig gewünscht.
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Kai Meyer
Das Gelübde
Erscheinungsjahr: 2006 (aktuelle Ausgabe)
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Bastei Lübbe
Preis: € 7,95
ISBN: 978-3404155040
250 Seiten
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