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Der Narr

Story:
Er ist der letzte, der übrig ist. Er ist der letzte, der noch in den Ruinen der Festung sitzt, irgendwo ganz am Rand der bekannten Welt. Er ist der Narr, der vom Fenstersims hoch über dem großen Saal aus für die Hofgemeinschaft gesungen hat. Er hat gesehen, wie Hass, Wut und Zorn langsam in der Kälte erstarrt sind. Er hat die Speere der Angreifer gesehen, aber nicht vor dem Überfall gewarnt. Er erzählt seine Geschichte.

Meinung:
Dieser Roman müsste eigentlich einen Warnhinweis tragen: "Vorsicht, dieses Buch kann traurig machen". Denn der Autorin gelingt es schon mit den ersten Sätzen, eine tieftraurige, gleichzeitig resignierte Stimmung zu erschaffen. Man sieht ihn regelrecht, den alten Hofnarren, wie er mit lange gebrochenem Körper und schon viel länger gebrochener Seele in den Ruinen der Festung sitzt und seine Geschichte erzählt. Es ist, als hätte man sich neben Marie geschlichen, um ebenfalls zuzuhören, neben die Marie, an die der Narr seine Erzählung richtet und die er anfleht, die Festung so schnell wie möglich zu verlassen. Sonst würde die Kälte auch sie erfassen und nie wieder loslassen.

Eigentlich möchte "Der Narr" laut gelesen werden. Aber auch wenn man den Roman "nur" still für sich liest, zeigt er seine Wirkung: Er bringt seine Leser in eine traurige, geradezu depressive Stimmung, die sich über die gesamten rund 180 Seiten eher steigert als auflöst. Entsprechend ist dieses Buch mit Sicherheit keine Lektüre für Kinder, und auch Leser, die für Stimmungsschwankungen oder gar psychische Probleme anfällig sind, sollten mit Vorsicht herangehen.

Die Geschichte, die der Narr erzählt, ist eine Geschichte von Macht, Beeinflussung, von der Abwehr solcher Einflüsse und schlussendlich eine Geschichte des Scheiterns. Eigentlich ist fast jeder der Charaktere am Ende gescheitert. Der Narr selbst, der alles verloren hat und nur noch auf den Tod warten kann. Der Herr der Festung, ein unbedeutender Regionalherrscher irgendwo am äußersten westlichen Rand der bekannten Welt, der sich für allmächtig hält, aber dessen Festung am Ende doch im Handstreich eingenommen wird. Als er die Herrschaft von seinem Vater übernahm, musste er aus der Fremde zurückkehren. Sein Versuch, die Festung mit den mitgebrachten Wandteppichen und Kandelabern, mit neuen Kleidern und Amtsbezeichnungen für die Dienerschaft, das nachzustellen was er in der Fremde liebte, entpuppt sich schließlich als chancenlose Scharade. Seine Frau, die Herrin, hat ihm nie verziehen, dass er sie in seiner Dummheit immer nur als weiteres Prunkstück seiner Sammlung sah, als die schöne Frau, die seinen wertvollen Schmuck trägt und Neid und Eifersucht in den Augen anderer auslöst. Dafür rächt sie sich mit Fehlgeburt um Fehlgeburt, um ihrem Mann den ersehnten Stammhalter vorzuenthalten. Aber auch scheitert, als eine Tochter trotz aller ihrer Bemühungen lebend zur Welt kommt und sich auch danach am Leben festkrallt. Diese Tochter, das Fräulein, wiederum verzeiht ihrer Mutter lange nicht, dass sie sie ablehnt – verzeiht ihrem Vater aber um so weniger, dass er ihre Mutter soweit gebracht hat und sie, nach der Meinung nicht nur des Fräuleins, schlussendlich in den Tod getrieben hat. Sie ist die einzige, die der Festung entkommen kann, indem sie eines Nachts mit einem Gast aus Venedig flieht. Mit dieser Flucht bringt sie ihrem Vater den entscheidenden Schlag bei, der den Anfang vom Ende bedeutet.

Die Festung, an deren Bau schon der alte Herr, der Vater des Herren, am Ende scheiterte und starb, wirkt wie eine verfluchte Stätte. Niemand, der dort bleibt, hat eine Chance. Aber im Gegensatz etwa zu den Schauerromanen der Romantik sind es nicht die Unschuldigen, die ins Verderben gestürzt werden. Der Roman verflicht die persönliche Schuld und die Unabwendbarkeit der Ereignisse miteinander, so dass das eine das andere bedingt: Der Herr beispielsweise schuf mit seinem Handeln einen Großteil der Situation, die zum Untergang führte, aber er konnte nicht anders handeln, weil die Situation schon vorher nichts anderes erlaubte, weil...

Diese Unabwendbarkeit und die persönliche Verstrickung mag dazu beitragen, dass man als Leser zwar mit leidet, aber kein wirkliches Mitleid empfindet. Diesen Effekt verstärkt die Autorin durch zwei weitere Kunstgriffe: Fast alle Charaktere bleiben namenlos, der Narr ist nur der Narr, der Herr nur der Herr, das Fräulein nur das Fräulein, der Venezianer nur der Venezianer. Neben der Adressatin Marie trägt "die Line", einer der Mägde, als einzige einen Eigennamen. Und natürlich berichtet der Narr von Ereignissen aus der Vergangenheit, an denen sich ohnehin nichts mehr ändern lässt.

Wann und wo genau die Geschichte angesiedelt ist, ist eigentlich nebensächlich. Mit einigen Veränderungen in Kulisse und Symbolen könnte sie in mehr oder weniger jeder Epoche bis heute stattfinden. Die Beschreibung – eine kleinere Insel nahe einer größeren ganz am westlichen Rand der bekannten Welt – könnte auf Irland hindeuten, das außerdem zu den wichtigsten Themen im Werk von Gabrielle Alioth gehört. Der Klappentext ordnet das Gesehen im ausgehenden Mittelalter ein, aber die Abkehr vom alten Sonnenkult zugunsten des Gottes am Kreuz scheint noch nicht allzulange her zu sein.

Die Sonne als vergebliche Hoffnung und insbesondere die Kälte, die durch das Fehlen der Wärme ihr Werk tun kann, ist eines der wichtigsten Motive, die sich durch den gesamten Roman zieht. Damit ist nicht nur die Kälte der Witterung gemeint, sondern vor allem die emotionale Kälte. So viel Hass, so viel Wut auch im Spiel ist zwischen den Figuren, die der Narr von seinem Platz hoch auf dem Fenstersims im großen Saal beobachtet, es kommt fast nie zu Ausbrüchen. Die Charaktere fressen alles in sich hinein, Rache ist indirekt, und die Gefühle sind ebenso erstarrt wie die künstliche Welt des Herren, der sich vor Veränderungen und schlicht vor dem Ablauf der Zeit fürchtet.

Geschildert wird das alles in einem langen Monolog, der von Thema zu Thema und durch die Zeit springt. Der Narr gibt nicht einen strukturierten, kurzgefassten Bericht ab, er erzählt und leuchtet dabei die Geschehnisse nach und nach weiter aus. Wie viel davon tatsächlich so passiert ist, wie viel sich seine Erinnerung nach Jahren anders zurecht gelegt hat und wieviel nur seine Fehlinterpretation ist, bleibt offen. Eine Kapitelstruktur gibt es nicht, kurze, jeweils weniger als eine Seite umfassende Abschnitte folgen aufeinander.

Die Autorin Gabrielle Alioth stammt aus der Schweiz und studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte. Mitte der 1980er siedelte sie nach Irland über, wo sie für deutsche Medien arbeitete. "Der Narr" ist ihr erster Roman, dem weitere und andere Publikationen wie Theaterstücke und Hörspiele folgten. Oft befasst sie sich in ihren Werken mit ihrer neuen Heimat Irland, beispielsweise in Reisebüchern oder Erzählungen für Kinder, die aus der irischen Mythologie schöpfen. Ihre Publikationen führten sie zu Lesereisen in viele Länder, unter anderem war sie Swiss writer-in-residence an der University of Southern California. Seit 2004 ist sie an der Hochschule Luzern Design & Kunst tätig. Die hier besprochene Ausgabe des "Narren" bei Knaur ist mittlerweile verlagsvergriffen, seit 2004 ist der Roman allerdings als Print on Demand erhältlich.

Fazit:
Ein tieftrauriger Roman, der jungen Lesern oder Menschen, die für derartige Stimmungen anfällig sind, nicht empfohlen werden kann. Alle anderen können sich für einige Stunden in eine Welt entführen lassen, in der die Gefühle eingefroren sind, in der Hass und Wut unsichtbar unter der Oberfläche brodeln und in der fast alle Charaktere am Ende scheitern. Der Autorin gelingt es scheinbar mühelos, die Geschichte zu vermitteln; "Der Narr" will eigentlich laut gelesen werden, als würde man den Worten des Ich-Erzählers tatsächlich lauschen.

Der Narr - Klickt hier für die große Abbildung zur Rezension

Gabrielle Alioth
Der Narr
Erscheinungsjahr: 1995



Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck

Verlag:
Knaur

Preis:
€ 15,00

ISBN:
3-426-63068-0

188 Seiten
Positiv aufgefallen
  • Die Autorin erzeugt geschickt eine tieftraurige-resignative Stimmung
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Rezension vom: 13.08.2012
Kategorie: Historisches
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