Die Maus von Kerbridge
Story:
Bevor er in den Krieg zieht, will ein Edelmann die Locke seiner Angebeten als Talisman ergattern. Aber das Mädchen will ihm seine Gunst nicht schenken. Was also tun? Ein leichtsinniger Zauberer hat die Lösung: Mit Magie macht er einen Mäuserich zum unfreiwilligen Agenten. Der Nager soll sich ins Schlafgemach des Mädchens schleichen und ihr eine Locke vom Haupt schneiden.
Aber der Edelmann ist in Wirklichkeit gar keiner und hat ganz andere Pläne. Die Maus erfährt von dem Mädchen zum ersten Mal im Leben Freundlichkeit und schlägt sich auf ihre Seite. Gemeinsam können sie knapp ihr Leben retten. Und das ist nur das erste Abenteuer des ungewöhnlichen Helden...
Meinung:
"Bist Du ein Mann oder eine Maus?" ist eine beliebte Frage, wenn man jemanden zu etwas Riskantem überreden will. Im Fall des kleinen Helden Mus lautet die Antwort klar: Beides. Ein verantwortungsloser Magus hat aus einem gewöhnlichen Hausmäuserich eine Art Mensch im Pelz gemacht, vollständig mit Bewusstsein seiner selbst und opponierbaren Daumen. Damit ist er jedoch in seiner Welt gar nicht mal so ungewöhnlich. Der Magus selbst ist ein Satyr, sein Auftraggeber – der angeblich verliebte Edelmann – ein Zentaur, ebenso wie das Ziel des unfreiwilligen Agenten, eine Harpie übernimmt Botendienste und so fort. All diese Wesen leben völlig selbstverständlich mit "normalen" Menschen zusammen. Der Schauplatz erinnert in vielem an unsere Welt im späten Mittelalter oder der Renaissance. Auch wenn die Länder andere Namen tragen, erkennt man im Inselkönigreich Duncruigh leicht England, in Nantierre, dem alten Rivalen auf dem Kontinent, Frankreich und so weiter.
Ohne den Wechsel in eine Fantasy-Welt würde jedoch ein interessanter Punkt des Buches wegfallen, nämlich der Blick durch die Augen des Mäuserich. Diese Perspektive gelingt Paul Kidd bemerkenswert gut. Wenn er den noch "unverwandelten" Nager über den nächtlichen Küchenboden huschen lässt, immer auf der Hut vor Feinden und auf der Suche nach Fressbarem, wird so mancher Leser sich an sein Haustier erinnert fühlen. Das muss nicht zwangsläufig eine Maus sein, auch wer mit einem Hund, einer Katze oder einem anderen Säugetier zusammenlebt, wird an diesen Stellen des Romans vieles wiedererkennen. Soweit man sich als Nicht-Maus die Perspektive einer Maus vorstellen kann, Kidd hat sie ziemlich gut getroffen.
Die Geschichte insgesamt ist nichts besonderes und würde ohne größere Änderungen auch außerhalb des Fantasy-Genres funktionieren. Mus' Abenteuer könnten einem der vielen Musketier-Klone entstammen. Wie bei diesen häufig findet man auch in "Die Maus von Kerbridge" eine gute Portion Kitsch und Klischee. Das Happy End ist selbstverständlich. Auch die Figuren bewegen sich nicht allzuweit von ihren jeweiligen Rollenklischees weg. Der Magus ist natürlich böse, der plötzliche Held natürlich edelmütig, das Mädchen, dem sein Einsatz zu Beginn gilt, natürlich freundlich und in Nöten.
Aber Kidd erzählt so charmant und so im positiven Sinne routiniert, dass man über diese Mängel hinwegsieht. Auch die relativ "optische", leicht zugängliche Erzählweise trägt dazu bei und dürfte auf die Erfahrungen des Autors in der Gamesbranche zurückgehen. Unter anderem war er Autor, Regisseur und leitender Designer für das NES-Adventure "Nightshade". "Die Maus von Kerbridge" war sein erster Roman, dem mittlerweile diverse weitere folgten. Das Thema "Furry", also anthropomorphe Tiere, spielt dabei oft eine große Rolle. Auch so manche Bewohner von Mus' Welt kann man als Furries betrachten. Mancher Leser wird sich auch an den Mauswanderer Feivel oder an "Dogtanian und die drei Musketiere" erinnert fühlen.
Man könnte den Roman mit dem Attribut "für die ganze Familie" versehen, aber dafür besitzen einige Szenen dann doch zu viel Albtraumpotential für sehr junge Leser. Beispielsweise bringt der böse Magus seinen unfreiwilligen Agenten zur Räson, indem er ihm telepathisch überaus heftige, als "weißglühend" beschriebene Schmerzen in allen Teilen seines Körpers zufügt. Und schon im dritten Kapitel geht eine im Wortsinne albtraumhafte Kreatur mit starken Anklängen an Lovecraft auf die Jagd. Auf der anderen Seite sind auch diese Teile nicht so intensiv, dass man sie nicht notfalls an Papa oder Mama gekuschelt bewältigen könnte.
Fazit:
Charmant und im positiven Sinne routiniert erzählt Paul Kidd die Geschichte einer kleinen Maus, die zu einem großen Helden wird. Wer keine literarischen Höchstleistungen von einem armen kleinen Fantasy-Roman erwartet und auch mit einer Portion Kitsch und Klischee leben kann, kann hier den kleinen Maus bei spannenden Abenteuern begleiten. Einige Szenen könnten für zu junge Leser zu viel Albtraumpotential haben.
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Paul Kidd
Die Maus von Kerbridge
Mus of Kerbridge
Übersetzer: Alfons Winkelmann
Erscheinungsjahr: 1995
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Heyne Verlag
Preis: € 0,00
ISBN: 3-453-12692-0
462 Seiten
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